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Deeskalation und Gewaltprävention

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Deeskalation und Gewaltprävention

Diskussionen und kontroverse Gespräche gehören für Beschäftigte im öffentlichen Dienst zum Arbeitsalltag. Wie aber umgehen mit Beschimpfungen, Beleidigungen oder gar körperlichen Angriffen? Die Stadt Aachen hat ein "Sicherheitskonzept Gewaltprävention" entwickelt, um ihre Beschäftigten bestmöglich zu schützen.


von Holger Schmidt
und Dominik Buschardt
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Freundlichkeit ist dabei das A und O, betont Volker Haupt, der bei der Stadt Aachen angestellt und für den Bereich Gewaltprävention zuständig ist. „Wir im öffentlichen Dienst sind Dienstleister und sollten auch so auftreten“, sagt Haupt. Das heißt: höflich und freundlich. Aber nicht übertrieben, sondern professionell.

Bei einem solchen Auftreten sei die Chance groß, kritische Situationen zu deeskalieren oder gar nicht erst in solche Situationen zu geraten. Allerdings könne man den „Faktor Bürger“ nicht beeinflussen. Und in manchen Fällen misslingt der Versuch einer Deeskalation.

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Das Spiel zwischen Distanz und Nähe spielt eine wesentliche Rolle. Es muss zur jeweiligen Tätigkeit und zum Setting passen. Ein Bürger, der mit einem Anliegen zum Jobcenter kommt, benötigt eine andere Ansprache als eine Bürgerin, die am Recyclinghof ihren Müll entsorgen will.

Gefährlich kann es immer dann werden, wenn die Beschäftigten ein Anliegen ablehnen müssen. „Das Nein hat eine Schlüsselfunktion“, weiß Volker Haupt. „Dadurch können Situationen schlagartig eskalieren. Darauf bereiten wir die Menschen in den Seminaren vor: Nur weil jemand freundlich ist, heißt das noch lange nicht, dass die Situation nicht gefährlich werden kann.“

Beleidigungen und Beschimpfungen sind dabei das eine. Das andere sind körperliche Übergriffe, die die nächste Eskalationsstufe darstellen und vorkommen können. Auch das liegt an der Distanz, allerdings nicht an der sozialen, sondern an der räumlichen Distanz.

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Für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst bedeutet das: Sie sollten für den Fall der Fälle darauf vorbereitet sein, sich gegen Angriffe zu schützen. Die Selbstschutztechniken nehmen im Deeskalationstraining deshalb einen recht großen Raum ein. Denn, so Haupt: In der Kommunikation seien die Teilnehmer geübt, da gehe es im Seminar mehr um Feintuning. Wie man seinen Kopf aber mit den Armen effektiv vor Schlägen schützt oder wie man stabil steht und auch bei einem Schubs nicht die Balance verliert, darüber wissen die Teilnehmer hingegen selten etwas.

Deshalb vermittelt Haupt einfache Techniken, die alle anwenden können. Sportaffine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen sich damit genauso vor Angriffen schützen können wie diejenigen, die körperlich vielleicht nicht so fit sind.

Wie das bei Schlägen zum Kopf aussieht, zeigt der Anti-Gewalt-Trainer im Video. Den Angreifer spielt Robin Geidel, der Haupt beim Deeskalationstraining assistiert. Der 27-Jährige arbeitet seit 2016 bei der Aachener Berufsfeuerwehr und befindet sich im dritten Lehrjahr seiner Ausbildung zum Notfallsanitäter. 

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Der erste Angriff ist mit dem „Haubenblock“ abgewehrt. Aber was dann? „Wir üben auch das Schubsen, um Distanz herstellen zu können. Das Ganze untermauern wir mit Körpersprache und mit Stimme“, führt Volker Haupt aus. „Ich erlebe Menschen in den Seminaren, die es nicht schaffen, auch mal laut zu schreien und sich selbst verbal übergriffig zu verhalten. Das ist aber erforderlich, wenn ich mich aus einer Situation befreien möchte. Also üben wir ganz explizit das Brüllen.“

Denn letztlich geht es immer um eine Sache...

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Das Deeskalationstraining ist nur ein Aspekt, um die die Beschäftigten am Arbeitsplatz vor Übergriffen zu schützen. Die Stadt Aachen hat ein ganzes „Sicherheitskonzept Gewaltprävention“ entwickelt.

Die Bausteine sind Gefahrenbewertung, Präventionsmaßnahmen, besagte Deeskalation sowie die Nachsorge. Katrin Päßler, leitende Fachkraft für Arbeitssicherheit bei der Stadt Aachen, bringt diese vier Bausteine folgendermaßen auf den Punkt (Klick auf Play-Button).

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Die Grundlage für das Sicherheitskonzept bildet das von Päßler angesprochene „Aachener Modell“ zur Gewaltprävention. Dabei handelt es sich um eine systematische Beurteilung der Bedrohungen am Arbeitsplatz, die gleichzeitig Umsetzungs- und Handlungshilfen beinhaltet.

Es entstand, nachdem im Jahr 2007 eine Frau zwei Angestellte des Aachener Jobcenters mit einer Luftdruckpistole bedroht und als Geiseln genommen hatte. Die Geiselnahme wurde nach zwei Stunden zwar unblutig beendet, niemand wurde verletzt. Aber der Schock wirkte nach.

„Das ‚Aachener Modell‘ entstand also tatsächlich aus einer ganz konkreten Bedrohungssituation heraus, mit der niemand gerechnet hatte“, sagt Katrin Päßler, die damals noch für die Unfallkasse Nordrhein-Westfalen arbeitete und auf Initiative des Jobcenter-Leiters zusammen mit Präventionsexperten der Polizei an der Entwicklung des Modells mitwirkte. Das Modell beschreibt vier Gefährdungsstufen von 0 bis 3, wobei die rote Stufe nur die absoluten Ausnahmefälle wie Amokläufe und Geiselnahmen umfasst. Den anderen Stufen grün, gelb und orange hat die Stadt Aachen die verschiedenen Arbeitsplätze zugeordnet.

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Das Spektrum an Gewalt, dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgesetzt sein können, ist also breit. „Man muss den unterschiedlichen Formen der Gewalt mit adäquaten Mitteln begegnen“, sagt Katrin Päßler. Kurzum: Beleidigungen erfordern andere Strategien und Maßnahmen als Angriffe mit Waffen.

Welche Maßnahmen die Stadt Aachen zur Sicherheit ihrer 5.600 Beschäftigten ergreift, hängt von der jeweiligen Tätigkeit ab. Analog zum Arbeitsschutz folgt auch das Aachener „Sicherheitskonzept Gewaltprävention“ dabei dem TOP-Prinzip, stellt also technische vor organisatorische vor personenbezogene Maßnahmen.

Technisch könnte das eine gefahrenbewusste Büroeinrichtung sein, bei der die Beschäftigten im Kundengespräch immer den kürzesten (Flucht-)Weg zur Ausgangstür haben. Organisatorisch könnte das die Arbeit mit festen Terminvergaben sein, die die Wartezeiten für Kunden reduziert und damit zur Deeskalation beiträgt.

Warum die personenbezogenen Maßnahmen so wichtig sind, erklärt Katrin Päßler (Klick auf Play-Button).

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Führungskräfte spielen eine wichtige Rolle. Sie sind verantwortlich für die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten:
  • Sie müssen dafür sorgen, dass die in der Gefährdungsbeurteilung festgelegten Maßnahmen in der Praxis auch umgesetzt werden.

  • Sie geben ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Rückendeckung, indem sie bei schwierigen, möglicherweise eskalierenden Gesprächen dabei sind oder hinzu geholt werden.

  • Sie haben eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Beschäftigten. Falls es doch zu einem gewalttätigen Übergriff gekommen ist, organisieren sie Unterstützung – beispielsweise die psychologische Betreuung.

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Die Aufgabe des Anti-Gewalt-Trainers Volker Haupt ist es, die Beschäftigten der Stadtverwaltung Aachen in die Lage zu versetzen, sich vor Angriffen schützen zu können. Beim Deeskalationstraining fragt er bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nach deren persönlichen Erfahrungen. Sofern sie zustimmen, werden diese konkreten Fallbeispiele im Seminar skizziert. „Nur wenn es sie selbst betrifft, können die Beschäftigten das, was wir in der Theorie oder in Rollenspielen erarbeiten, auch auf sich selbst übertragen“, sagt Haupt.

Der Trainer selbst versucht, möglichst viel über die unterschiedlichen Berufe und Arbeitsplätze in Erfahrung zu bringen, um die Seminare bestmöglich auf die jeweiligen Bedürfnisse zuschneiden zu können. Dann schlüpft er auch schon mal in die Rolle des Betrunkenen, auf den die Rettungssanitäter deeskalierend einwirken müssen.

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Durch Corona hat sich die Situation für die Beschäftigten verändert – je nach Tätigkeit positiv oder negativ.

Positiv: Die Stadtverwaltung Aachen arbeitet verstärkt mit Terminvergaben. Für Bürgerinnen und Bürger haben sich dadurch die Wartezeiten bei Behördengängen verkürzt. Kürzere Wartezeiten bedeuten weniger Ungeduld und weniger aggressives Verhalten. „Wir haben schon Signale bekommen, dass die Beschäftigten in Zukunft gerne weiter mit Terminvergaben arbeiten würden“, sagt Katrin Päßler.

Negativ: Insbesondere die Beschäftigten im Außendienst werden wegen Corona in mehr Diskussionen verwickelt, auch wenn diese natürlich nicht immer entgleisen. Das gilt etwa für Politessen oder für den Ordnungs- und Sicherheitsdienst, der die Einhaltung der Coronamaßnahmen kontrolliert. „Wir bekommen die Rückmeldung: Bei vielen Menschen wird die Zündschnur immer kürzer, der Ton wird rauer“, sagt Päßler.

„Manche Bürger kommen einem sehr nah“, weiß Volker Haupt, „weil sie vielleicht erklären möchten, warum sie gerade jetzt den Parkschein nicht ziehen konnten.“ Die Pandemie könne man sich dann sogar zunutze machen, um eine Situation zu deeskalieren und Distanz herzustellen, ohne dem Gegenüber verbal auf die Füße zu treten. (Klick auf Play-Button)

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Nicht viele Kommunen kümmern sich so akribisch und systematisch um die Sicherheit ihrer Beschäftigten wie die Stadt Aachen. „Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann, dass andere Kommunen nachziehen und wir ein großes Netzwerk von Profis bilden, die in diesem Bereich arbeiten“, sagt Volker Haupt. Schließlich seien Gewaltpräventions- und Deeskalationstrainings zielführende Instrumente für Arbeitgeber, um ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen.

Als Orientierung und Vorbild kann das „Sicherheitskonzept Gewaltprävention“ nach dem Aachener Modell dienen. Einfach und schnell funktioniere die Umsetzung zwar nicht, sagt Katrin Päßler. Aber der Aufwand – auch der finanzielle – lohne sich, wie die leitende Fachkraft für Arbeitssicherheit in ihrem Fazit betont.

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